Bis ans Ende der Nacht

Als ich das Gelände der Universitätsmedizin Mainz betrete, wird mir zum ersten Mal klar, worauf ich mich eingelassen habe – nicht nur freiwillig, sondern aus eigener Initiative. Ich mag keine Kliniken, habe zu viele Stunden meines Lebens damit verbracht, dort um meine Lieben zu bangen. Der Geruch von Krankenhausbettwäsche schnürt mir die Kehle zu, der Blick in einen Klinikflur lässt meine Augen überlaufen. Und jetzt? Eine Nacht lang werde ich einen Medizinstudenten im Praktischen Jahr (PJ) durch seinen Dienst begleiten – und diese Nacht beginnt um 15.30 und endet am nächsten Tag um 8 Uhr mit der Frühbesprechung. Sechzehneinhalb Stunden im Krankenhaus? Ich muss verrückt sein.

„Mein“ Dienst beginnt mit Händeschütteln, ein Hallo vom Oberarzt, kurze Vorstellungsrunde mit dem Team, das augenscheinlich nicht so genau weiß, was es von meiner Anwesenheit halten soll. Einigung mit dem PJler – wir können doch du sagen? Prima. Bevor es wirklich losgeht, brauche ich einen Kittel, den mir mein Protagonist Konstantin per Chipkarte aus einem Automaten zieht. Kaum bin ich in den ersten Kittel geschlüpft, wird mir schon ein zweiter angehalten: Beim Besuch der Intensivstation trägt das Team rosa, mich eingeschlossen. Die Kittel werden am Rücken geschnürt, an den Handgelenken schließen sie mit Frotteebündchen; wie meine Kinderschlafanzüge, früher – diese Erinnerung tröstet mich beim Gang über Flure, auf denen ich sonst wenig Tröstliches entdecke.

Sieht aus wie echt, hält aber die erste OP nicht durch. (Foto: WP)

Sieht aus wie echt, hält aber die erste OP nicht durch. (Foto: WP)

Lassen Sie uns durch, wir sind Arzt
Danach – Visite auf der Station; noch mehr Ärzte. Ich füge mich nahtlos in den Tross, wundere mich aber, dass meine großen, runden Augen nicht preisgeben, wie neu und ungewohnt alles für mich ist. Die Ärzte sprechen mit den Patienten, und Zimmer um Zimmer bin ich es, an die sich die Angehörigen halten. „Ich bin so froh, dass es kein Tumorbefund ist“, murmelt eine Frau mit feuchten Augen und greift nach meinem Arm. Ich berühre sanft ihre Hand, erwidere ihren Blick, nicke und schweige. Im Flur scherzt der Oberarzt, wer schweigend im Hintergrund bleibe, werde im Zweifel immer für den Chef gehalten – die Kittel machen uns scheinbar gleich, obwohl meinem das Namensschild fehlt. Beim anschließenden Blutabnehmen rührt sich mein Magen; der Patient hat sichtlich Schmerzen, ich fühle mich beklommen. Ein anderer Patient wird fertig gemacht für das Team der Palliativstation, auf die er umsiedelt – sein letzter Umzug, denn der Krebs ist so weit fortgeschritten, dass die Ärzte nichts anderes mehr tun können, als ihm das Sterben zu erleichtern. Mir ist zum Heulen zumute.

Bis auf die Unterwäsche
Es folgt eine Theorieeinheit – beackern der Patientendaten am Computer, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dazu Bananen aus dem Kühlschrank. Dann plötzlich, Schluss mit Theorie: die erste OP. „Du musst dich komplett ausziehen in der Schleuse und die OP-Kleidung an“, erklärt mir Konstantin. Ich tripple von einem Fuß auf den anderen, komme mir reichlich blöde vor, frage vorsichtshalber trotzdem nach: „Auch die Unterwäsche?“ Die Männer kichern. Nein, die darf ich anbehalten. In der Schleuse sind alle Geräusche gedämmt. Ich greife mir eine Hose aus dem Regal – zu groß. Falte sie vorsichtig wieder zusammen und nehme mir eine kleinere. Die Kleider sind steif und kühl auf der Haut, ich nehme zum ersten Mal in dieser Nacht meine Ohrringe ab und suche mir aus der Vielzahl der OP-Schuhe ein Paar heraus, das nicht mit Buttons verziert ist oder mit einem Namen beschriftet.

Obwohl ich die Operation vor allem auf dem Bildschirm über dem OP-Tisch verfolge, stehe ich ganz nah am Patienten – würde ich die Hand ausstrecken, ich könnte ihn berühren. Stattdessen stemme ich beide Hände in meinen Rücken, wie um mir selbst Halt zu geben: Der Geruch hier drin ist streng, die Bilder aus dem Inneren des Patienten fremd – und zu sehen, wie die Ärzte mit ihren Geräten in seinem Bauch stecken, weil sie durch dessen Decke operieren, macht meinen Kopf so leicht, dass ich kurz befürchte, einfach umzufallen. Dann entdecke ich die Leber des Patienten, dunkel und glänzend, und so schön, dass ich mir vornehme, auf meine in Zukunft besser zu achten. Beinahe hätte ich die OP so bis zum Schluss durchgehalten, als aber plötzlich Flüssigkeit aus der Gallenblase läuft und es im Saal nach verschmortem Fleisch zu riechen beginnt, flüchte ich in die Kaffeeküche.

Hilft, die Nacht zu überstehen: Kaffee für alle. (Foto: WP)

Hilft, die Nacht zu überstehen: Kaffee für alle. (Foto: WP)

Blutig – für Journalisten kein Zutritt
Dass ich am Ende kneifen musste ärgert mich, zumal ich bei der nächsten Operation erst gar keinen Zutritt habe – zu blutig. Stattdessen lässt mich einer der Ärzte an einem Simulator selbst „operieren“ üben, aber ich kriege die Bewegungen im dreidimensionalen Computerraum nicht hin und hätte alle meine Patienten umgebracht. Es folgen Stunden in der Notaufnahme – ich habe im Kopf, dass wir nach 23 Uhr nirgends mehr Essen bestellen können und seufze innerlich laut auf, als um kurz vor elf eine Patientin kommt und damit besiegelt, das Essen fällt heute Nacht aus. Dafür halte ich die nächste OP durch, stehe mit eisernem Willen ganz nah am Tisch und zwinge mich, die Augen offenzuhalten, egal wie leicht mein Kopf zwischendurch auch wird. Die Nachtschwestern nehmen meine Anwesenheit beim zweiten Mal bereits als völlig selbstverständlich hin und auch das Ärzteteam hat sich merklich an mich gewöhnt, hält sich mit Scherzen nicht weiter zurück. Nur gelegentlich die glucksende Bitte, „das aber so nicht schreiben“. Dafür bricht bei den Männern nach und nach die Fürsorge durch – ich werde mit Brötchen und Kaffee versorgt und die Vier bieten mir an, den Rest der Nacht abzukürzen, indem ich einfach schon mal in mein Bett krieche. Doch das kommt nicht in Frage.

War spät gestern: süße 90 Minuten Schlummer. (Foto: WP)

War spät gestern: süße 90 Minuten Schlummer. (Foto: WP)

Queen of the Augenring
Stattdessen eine weitere Operation, inzwischen ist die Schleuse Routine, am OP-Tisch allerdings wird mir immer noch flau. Es ist kurz nach fünf Uhr, Konstantin näht, ich helfe den Schwestern mit dem Müll, reibe mir dabei verstohlen die Augen. „Geh schlafen“, sagt einer der Ärzte und diesmal wehre ich mich nicht, denn ich weiß, auch das Team legt sich nach dieser OP hin – wenn auch nur kurz, um viertel nach sieben ist Treffen für die Morgenvisite. Durch die Notaufnahme tapse ich zu dem Zimmer, in dem ich schlafe – halb hatte ich, geprägt von US-Medizinserien, einen Raum voller Hochbetten erwartet: Doch zum Glück bin ich für mich. Süße 90 Minuten, dann heißt es aufstehen und zurück auf die Station.

Den Ärzten ist die Routine mit kurzen Schlafnächten anzumerken, sie wirken alle deutlich frischer als ich, die ich ihnen über die Flure hinterher-schlafwandle. Als ich später zu meinem Auto laufe, bin ich gleich doppelt froh: Darüber, dass es nicht Teil meines Berufes ist, mir dauernd die Nacht um die Ohren schlagen zu müssen. Und darüber, dass es Teil meines Berufes ist, eine solche Nacht miterleben zu dürfen, um anschließend darüber zu schreiben.

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